Home Juergen Sturm Gitarrenworkshop von Jürgen Sturm

 

Warum Mundharmonikalehrer nicht reich werden,
oder:  „Wie lege ich das Kabel vom Ohr in meine Fingerkuppe?“

Es würde mich freuen, wenn die im Titel genannte Berufssparte hoch erfolgreiche Ausnahmen kennt. Ich wage jedoch die Behauptung, daß die Mundharmonika in der Regel intuitiv gelernt wird. Recht schnell finden Talentierte die Wege (ganz nebenher ein Wort das die Griechen für Skalen kennen: Dromoi=Wege) „nach oben“ und „nach unten“,  den Unterschied zwischen Sekunde und Terz blasen oder ziehen sie, kurz: von Anfang an verbinden sie körperliche Bewegungsabläufe mit Ihrem Gehör und der Melodie, der Rhythmik, Dynamik … Kaum einer braucht hierzu Unterricht.
Haben diese Menschen noch die besondere Gabe zur Improvisation, wird es ganz toll, weil ihnen das Instrument falsche Töne auch noch verbietet (…oder fast so ähnlich). Unter solchen Umständen begreife ich nicht, warum es von Mundharmonikaspielern und Mundharmonikaspielerinnen nicht geradezu wimmelt. Ferner bedauere ich sehr, daß es uns Gitarristen nicht auch so geht. Uns gegenüber  sind Saxophonisten, Pianisten, die meisten anderen Instrumentalisten von einem durchschaubaren und daher erhörbaren System umgeben.
Sollten wir, liebe Kollegen, uns hier im Wunsch treffen, die Darstellung und Erfindung von Melodien auf der Gitarre zu betreiben und /oder dies zu lehren, oder dies zu lernen, mag es hilfreich sein auf der Gitarre ‚Mundharmonikas‘ einzurichten.

 

Das Verbot tonleiterfremder Töne übernimmt bei uns der Fingersatz, intuitiv sollte er sein. Ein solcher wäre etwa der Fingersatz 1,2,3,4, auf jeweils einer Saite für die ersten beiden Sequenzen der Melodie von ‚Blue Monk‘ , ( da würden sich die Mundharmonikaspieler mühen müssen, geht aber auch auf Blues Harp) Die ersten Töne von Parkers ‚My Little Suede Shoes‘ als auch von Rollins ‚Doxy‘ sind leicht als Barré mit dem ersten Finger über die 4.3. und 2. Saite zu ‚erhören‘, sind die vom Ohr erwarteten Intervalle doch die Quinte, Grundton und Terz.
Nehmen wir ein 2-oktaviges G-Dur Arpeggio. Die meisten Schulen bieten hierzu die 2. Lage, ab 6. Saite Finger  2, 1, 4, 4, 3, 2, 2 an. Das Arpeggio ist  Bestandteil einer der  5 üblichen Fingersätze für 2 Oktaven ohne Lagenwechsel .  Zum Blattlesen-Lernen kein schlechter Ansatz.  Zwei mögliche Alternativen scheinen mir dem intuitiven Spiel zuträglicher:  2. Lage ab 6. Saite Finger 2, 1, 4, fortgesetzt mit gleichem Fingersatz in 4. Lage ab 4. Saite oder auch :  auf 6. Saite spielen Finger 1 den Grundton und Finger 3 die Terz, was einen Lagenwechsel benötigt, der sowohl die Quinte und den nächsten Grundton in der 5. Lage (jeweils 1.F.) ermöglicht. Hier wiederholt sich die Figur identisch.
Wer illiterate Saiteninstrumentalisten in den Folkloren dieser Welt beim Improvisieren beobachtet entdeckt zahlreiche solcher ‚intuitiven Lösungen‘.

 

Zur Praxis:
Beginnen wir mit dem Dur-Fingersatz welcher auf der 3. Saite mit Finger 1 beginnt und in gleicher Lage auf der 1. Saite mit Finger 4 mit der Oktav endet.  Eine kurze ‚Mundharmonika‘ die es mit etwas Übung ermöglichen sollte Melodien nach Gehör zu spielen, des Weiteren zu variieren, zu improvisieren. Nennen wir diesen Fingersatz für heute mal Ausgangsfingersatz.

Spielt hiermit doch mal:
Alle meine Entchen,
Fuchs Du hast die Gans  gestohlen,
Oh When The Saints,
Weißt Du wie viel Sternlein stehen, 
Alle Vögel sind schon da,
Der Mond ist aufgegangen,                
Musidenn musidenn zum Städele hinaus  (oder Eure Vorstellung von den Werken).                                                                                                       

Beginnt auswendig einfache diatonische Dinge zu spielen die Ihr auch singen könnt, das heißt:  spielt was Ihr kennt, agiert wie ein Sänger, Mundharmonikaspieler, klettert den Erwartungen des Gehörs entsprechend die Leiter der Töne auf und ab. Denkt die Töne nicht in Notennamen sondern versucht sie in ihren Verläufen und Strukturen intervallisch zu  erkennen, sowohl als Hörereignis, als auch als Griffbild.
Helft mit Analyse und Gedächtnis nach, nutzt hierfür keine Noten, merkt Euch alles mit Hilfe von Intervallen.
Imaginiert den Fingersatz ohne Instrument und laßt beim Singen in Eurem bildlichen Vorstellungsvermögen die jeweiligen Druckpunkte der Fingerkuppen auf dem Griffbrett aufleuchten.

Wiederholt  den Prozess mit neuen Liedern : 
Heißa Kathreinerle,
Frère Jacques (da brauchen wir den ersten Finger auf der 4. Saite für die Unterquint),
Oh My Darling,  Sur le Pont d´Avignon  (2 Lieder mit Quint, Sexte, gr.Septe unter dem Grundton, wir erweitern unsere Mundharmonika).

Selbstverständlich könnt Ihr alle Aufgaben nun auch in anderen intuitiv erhörbaren Fingersätzen spielen, oder etwa in andere Modi transponieren (alle Vögel sind schon da  klingt in äolisch recht depressiv,…es ist schließlich in improvisatorischen Zusammenhängen schon klasse wenn Mensch das Wechseln in andere Modi beherrscht.)
Ich will hier niemanden durch die Machbarkeit der Übungen  beleidigen, hoffe aber das System  hinreichend erklärt zu haben.
Worum geht es? Melodische Improvisation. Prinzessinnen und Prinzen dieser Disziplin erwecken den Eindruck sich nicht verspielen zu können. Ihre Ohren scheinen auf besondere Weise mit den Fingerkuppen verbunden zu sein. Sie tanzen auf Ihrem Instrument in der Musik herum daß es eine Freude ist, Ausbrüche in jede Richtung möglich scheinen. Wenn Sie straucheln tun Sie auch das vermeintlich zur rechten Zeit und zwar so, daß sie das angerichtete Chaos so geschickt auflösen, daß ein Wunsch nach mehr so schönem Chaos übrig bleibt. Mit Sicherheit können sie größtmögliche musikalische, wohlmöglich persönliche Freiheit für sich in Anspruch nehmen.  Wer sich dieser Kategorie annähern möchte sollte auf seiner Gitarre Mundharmonika spielen und Gehör – (Treff-) Sicherheit anstreben.


Weiter geht’s:
Lilly Marlen,
Bald ist hl. Nacht,
Guten Abend gut' Nacht,
Kommt ein Vogel geflogen ,
Maikäfer flieg,
Schlaf Kindchen schlaf,
Schlaf mein Prinzchen schlaf ein,
Eine Seefahrt die ist lustig,
Heile heile Gänschen ,
Schneeglöckchen Weißröckchen,
Leise rieselt der Schnee,
Nowbody Knows The Trouble I've Seen,
Swing Low, Sweet Chariot,
Moritat (Mäcky Messer Song)….

beginnen auf der Terz, wohlmöglich unter dem Grundton, oder darüber und verlassen den Tonumfang? Vielleicht zu spielen mit einem phrygischen Fingersatz?  1.Finger auf 3.Saite beginnt halt 4 Bünde höher als beim bisherigen Fingersatz…bastel an der Leitung Ohr Finger nicht ohne das Hirn. Merke Dir alle Bewegungen, seien es Linien oder Arpeggiofragmente - wie Patterns einer Jazzschule. Schenkt Ihnen durch Variation weitere Leben.

Auf der schwäb'schen Eisenbahne,
My Bonny Is Over The Ocean,
Hänschen klein, Alle Jahre wieder,
Niklaus ist ein guter Mann,
Kein schöner Land,  Kuckuck, Kuckuck, ruft's aus dem Wald, 
Auf einem Baum ein Kuckuck,
Oh Tannenbaum,
Laßt uns froh und munter sein,
Stille Nacht, Im Märzen der Bauer,
Lorelei, Guter Mond du gehst so stille,
Oh – Du lieber Augustin,
Happy Birthday,
Brüderlein komm tanz mit mir,
Ein Mann der sich Kolumbus nannt,
Ich geh mit meiner Laterne,
Klingglöckchen klingelingeling,
Marseillaise,
Ein Männlein steht im Walde,
St. Martin,
Ich geh mit meiner Laterne…
beginnen auf der Quint, unter oder über dem Grundton. Bei manchen Melodien ist auch ein mixolydischer Fingersatz ideal, etwa begonnen mit dem 1. Finger auf der 3. Saite. Er liegt 7 Bünde, also eine Quint höher  als unser Ausgangsfingersatz.


Wechsel von Fingersatz und Lage können durchaus eine ‚intuitive‘ Erleichterung bieten. Spielen wir etwa ‚Horch was kommt von draußen rein‘ mit unserem Ausgangsfingersatz in C-Dur :  Das Lied beginnt auf dem Grundton, steigt die Tonleiter bis zur Sext und beendet dann die erste Phrase auf der Quinte. Dann tauchen zwei  Akkordbrechungen auf :  Septe, Quinte und Dezime der Dominante, dann Quinte, Terz und Oktav der Tonika. Das berühmte hollahie, hollaho. Dies zu spielen  würde ich den Fingersatz verlassen zu Gunsten dreitöniger Arpeggios die Ihr sicher auf den oberen 3 Saiten kennt. In diesem Fall: hollahie in der 6. Lage mit den Fingern 1,2,3 und hollaho in der 8. Lage mit 1,2, 1. Das Lied wiederholt dann die erste Phrase und das hollahie. Dem folgt sofort das jaho mit den Tönen d und c auf der 1. Saite, leicht zu erreichen aus der 1. Akkordbrechung (f mit 1.Finger/d-2./h-3.)heraus, indem der 3. Finger per elegantem Glissando den Ton ‚d‘  erreicht (Quinte der Dominante) und der 1. Finger sanft auf dem Grundton abschließt. Das Lied geht weiter, Ihr findet schon wie.  Da Spiel- Lernerfahrungen und daher auch das Ohr-Fingerkuppenkabel individuel unterschiedlich sind, kommt ihr mit Sicherheit bei gleicher Aufgabenstellung zu unterschiedlichen Ergebnissen. Versucht Euch mal an dem  Standart  ‚All Of Me‘.
Stellt sicher daß Ihr die Melodie gut im Gehör habt, am besten zu den auswendig gelernten Akkorden singen könnt. Dann versucht die Melodie langsam zu spielen, eventuell erst zu finden, nach Gehör. Geht phrasenweise vor, schaut wie lange eine ‚Mundharmonika‘ hält bevor Ihr eine andere nehmt. Die Melodie hat natürlich mit den Harmonien zu tun, helft Euch durch Kenntnis der Akkordfolge.


Bei mir sieht das in etwa so aus: C-Dur Arpeggio mit den Intervallen 8,5,3 in achter Lage dann  8,9,8 als Auftakt zum E Dur Arp. 5,3,1 in der siebten Lage. Takt 5 bis 8 erhören sich ganz gut beginnend auf dem 3.Finger in achter Lage (a). Takt 9 bis 12 spielt in der bereits bekannten E Dur –Region der siebten Lage, ebenso begonnen mit dem 3.Finger, chromatisch zum 1. , gefolgt vom E Dur Dreiklang welcher dann noch Quarte und Terz vom A-moll Akkord mitnimmt. Ebenso mit dem 3. Finger beginnt in zehnter Lage die Melodie der Takte 13 bis 16.  chromatisch und der Rest erhört sich. Soweit die erste Hälfte … macht mal selbst weiter.
Und was hat das alles mit Improvisation zu tun? Viel.
Jede unserer ‚ Mundharmonikas‘  enthält zum jeweiligen harmonischen oder modalen Zusammenhang einen Vorrat an Tönen. Diese können zur melodischen Erweiterung  bis hin zur Improvisation herangezogen werden.

Jürgen Sturm, Aachen 25.12.2011